Stellungnahme zum Entwurf einer Dreizehnten Verordnung zur Änderung der Thüringer Schulordnung

von Peter Kießling

Der vorliegende Verordnungsentwurf birgt tiefgreifende Änderungen, die die Grundprinzipien der Thüringer Gemeinschaftsschulen betreffen. Insbesondere die geplante Wiedereinführung von Versetzungsentscheidungen ab einer früheren Klassenstufe und die Verpflichtung zur Einführung sogenannter Kopfnoten ab dem 1. Schuljahr stellen einen erheblichen Eingriff in die bewährten pädagogischen Konzepte der Gemeinschaftsschulen dar und gefährden damit nachweisbar erfolgreiche pädagogischen Arbeit, bestehende Konzepte und deren Umsetzung erheblich.

Das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur argumentiert, dass frühere Versetzungsentscheidungen und die Wiedereinführung von Kopfnoten zur Abbildung von Selbst- und Sozialkompetenzen der Schüler*innen die Lernatmosphäre verbessern und die Bildungsgerechtigkeit fördern würden. Aus Sicht der LIGA Thüringen vernachlässigt diese Sichtweise jedoch die positiven Effekte der bestehenden Praxis der Gemeinschaftsschulen, die auf eine differenzierte und individuelle Rückmeldung setzt und steht damit im Widerspruch zu diesem Ansatz. Viele Schulen haben alternative Bewertungsformen entwickelt, die diese Kompetenzen differenziert und qualitativ hochwertig abbilden. Statt starrer Zensuren bieten sie kriteriengeleitete Bewertungen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass ausführliche Verbaleinschätzungen und halbjährliche Lernzielgespräche effektiver sind als Zensuren, da sie sowohl die Lernfortschritte als auch das individuelle Potenzial der Schüler*innen stärker berücksichtigen, Unterforderung vermeiden und die psychische Gesundheit sowie soziale Integration fördern.

Daraus resultiert der Verzicht auf Noten bis Klasse 7 als ein zentraler Bestandteil des pädagogischen Konzepts vieler Thüringer Gemeinschaftsschulen. Die Einschätzung fachlicher Leistungen durch Kompetenzraster und halbjährliche Verbaleinschätzungen stellen einen zentralen Konzeptbestandteil dar und haben sich in der Praxis bewährt. Er ermöglicht es, leistungsschwächere Schüler*innen nicht zu stigmatisieren, was ihrer psychischen Gesundheit wie ihrer sozialen Einbindung zugutekommt und ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem unterstützenden Umfeld zu wachsen. Durch den Verzicht auf Noten kann die Leistung zugleich an curricularen Vorgaben und am individuellen Potenzial gemessen werden, sodass negative Effekte der Über- und Unterforderung besser vermieden werden können als mit Notengebung. Die flexible Handhabung der Versetzung z.B. in altersgemischten Gruppen, häufig in enger Abstimmung mit den Eltern, erlaubt es, das Wiederholen einer Jahrgangsstufe als Chance und nicht als Scheitern zu betrachten.

Der Erfolg dieser konzeptionellen Arbeit wird in der Rückmeldung einer Gemeinschaftsschule aus Jena eindrucksvoll deutlich:

„Nur in wenigen Ausnahmefällen haben Schülerinnen und Schüler unsere Schule ohne Abschluss verlassen. Dieses Ergebnis wurde erreicht, gerade weil im Zeitraum der Pubertät (mittlerweile ab Klasse 5) wesentlich weniger vom Mittel der Nichtversetzung Gebrauch gemacht wird. In unseren altersgemischten Stammgruppen wird ggf. bei mangelnden fachlichen Leistungen im Einvernehmen mit den Eltern eine freiwillige Wiederholung gewählt. Durch den Verbleib in der altersgemischten Stammgruppe kann einer negativen Stigmatisierung als „Sitzenbleiber“ weitgehend entgegengewirkt werden und durch diese gemeinsame Entscheidung wird das Wiederholen der Jahrgangsstufe nicht als Scheitern, sondern als Chance zur Verbesserung betrachtet. Diese Vorgehensweise kommt vor allem Schülerinnen und Schülern mit sozioökonomischen und kognitiven Herausforderungen in ihrer Entwicklung zugute. Reaktanz wird damit vermieden.“

Das längere gemeinsame Lernen mit einer frühesten Bildungsgangentscheidung in Klasse 8 und einer Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen bis Klasse 10 macht nicht nur das bildungspolitische Kernstück der Thüringer Gemeinschaftsschulen aus, es ist auch einer der maßgeblichen Gründe für Eltern, diese Schulform zu wählen. Dies bestätigen sowohl Eltern als auch nachweislich eine Erhebung an der Gemeinschaftsschule LEONARDO in Jena durch den Lehrstuhl für Schulpädagogik der FSU Jena aus dem Jahre 2017 (Prof. Gröschner).

Eine frühere Versetzungsentscheidung widerspricht dem Grundsatz der Thüringer Gemeinschaftsschulen und wirkt dem damaligen bildungspolitischen Bestreben entgegen. Die konzeptionell anerkannte und pädagogisch wirksame Vorgehensweise ist Ausdruck von Elternwillen und Ergebnis eines langjährigen Schulentwicklungsprozesses, der seine Grundlagen in den Jahren der Führung des Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur durch die CDU und die SPD hatte. Die damaligen Beratungen und Entscheidungen waren bewusst auf eine zukunftsfähige und moderne Pädagogik ausgerichtet.
Nicht zuletzt sind es gerade Gemeinschaftsschule, an denen inklusives Lernen besonders erfolgreich praktiziert werden kann, weil Heterogenität innerhalb der Lerngruppe kein Hindernis darstellt, sondern gelebte Normalität ist. Die besonders hohe Inklusionsquote an Jenaer Schulen ist dafür ein Beleg und leistet einen aktiven Beitrag gegen Diskriminierung im Thüringer Bildungswesen.

In der vorliegenden Fassung versteht die LIGA Thüringen die geplanten Veränderungen als massiven Eingriff in gewachsene Schulkultur und als eklatanten Widerspruch zum bildungspolitischen Ziel der Thüringer Gemeinschaftsschulen. Darin liegt enormes Konfliktpotenzial. Themen wie Notengebung und Versetzungsentscheidungen bieten leider immer wieder Anlass zur bildungspolitischen Polarisierung, zu ideologischem Streit und zur Bedrohung des Schulfriedens. Das sollte vermieden werden. Um eine Eskalation und Polarisierung in der Bildungspolitik zu vermeiden, erwartet die LIGA Thüringen, dass die Entscheidungsautonomie der Schulkonferenzen als höchstes Organ der Einzelschule hinsichtlich Notengebung, Leistungseinschätzung und Versetzungsentscheidungen gewahrt bleibt.

Konkret bedeutet dies, dass:

  1. auf Beschluss der Schulkonferenz die Bewertung von Kopfnoten durch verbale Einschätzungen ersetzt werden kann, sofern die alternativen kriteriengeleitete Bewertungen der Sozial- und Selbstkompetenz in alternativer Form erfolgen und qualitativ über den Mindestanforderungen der Schulordnung liegen.
  2. Gemeinschaftsschulen mit besonderen Konzepten wie Jahrgangsmischung oder einem Notenverzicht bis Klasse 7 weiterhin die Möglichkeit haben, Versetzungsentscheidungen erst ab Klasse 8 zu treffen.

Diese Vorschläge ermöglichen es, den Anforderungen der Landesregierung gerecht zu werden, ohne die individuellen und bewährten Konzepte der Gemeinschaftsschulen zu gefährden.

Wir fordern, dass die Vielfalt und die speziellen Bedürfnisse der Thüringer Gemeinschaftsschulen bei der finalen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden, um ein modernes, an wissenschaftlichen Grundsätzen orientiertes Bildungswesen zu bewahren. Mit den hier vorgeschlagenen, vom Kompromiss geprägten Anpassungen wird das Vorhaben der Landesregierung geachtet und ergänzt. Darüber hinaus bleiben das Thüringer Schulwesen und dessen Rechtsgrundlagen als ein modernes und an wissenschaftlichen Grundsätzen orientiertes Bildungswesen erhalten.

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