Stellungnahme in Vorbereitung der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport des Thüringer Landtags am 04.03.2022 zu den Beratungsgegenständen

  1. „Professionalisierung des Qualitätsdiskurses in der frühkindlichen Bildung durch Etablierung eines Zentrums für frühe Bildung“ – Antrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 7/2690
  2. „Fachkräftemangel in Thüringer Kindertageseinrichtungen und Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) im Freistaat Thüringen als Baustein zur Erzieher*innengewinnung an Kindertageseinrichtungen“ – Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 7/2883

wir bedanken uns für die Möglichkeit der Stellungnahme zu o. g. Anträgen und die Einbringung der Positionen der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen e.V. (im Folgenden: LIGA Thüringen) im Rahmen der mündlichen Anhörung im Ausschuss für Bildung, Jugend und Sport am 04.03.2022. Diese Stellungnahme ergeht im Namen der in der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen zusammengeschlossenen Spitzenverbände.

Zu den beiden Themenstellungen der Anhörung nehmen wir wie folgt Stellung.

1. Professionalisierung des Qualitätsdiskurses in der frühkindlichen Bildung durch Etablierung eines Zentrums für frühe Bildung (Fragestellungen siehe Anlage 2)

 

2 a) Inwiefern kann die Einrichtung eines Zentrums für frühe Bildung die Implementierung, Steuerung und Umsetzung einer landesweiten Qualitätsstrategie für die frühkindlichen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote unterstützen?

Aus Sicht der LIGA Thüringen kann eine landesweite Qualitätsstrategie grundsätzlich durch ein Zentrum für frühe Bildung unterstützt werden.

Es stellt sich aus Sicht der LIGA Thüringen jedoch die Frage, warum nicht die vorhandenen Strukturen bspw. des Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) genutzt und weiterentwickelt werden. Im Bereich Fort- und Weiterbildung wird weiterhin das ThILLLM Angebote im frühkindlichen Bereich entwickeln und vorhalten und muss deshalb dringend gestärkt werden.

Offene und noch nicht durch das ThILLM abgedeckte Themenbereiche wären aus unserer Sicht Forschung und fachliche Vernetzung im frühkindlichen Bereich, die durch die bisher vorhandenen Strukturen nicht abgedeckt werden.

Des Weiteren sollten weitere Akteure, bspw. die etablierten Bildungsträger der Wohlfahrtsverbände und andere Träger der Erwachsenenbildung, flankierend zu den bestehenden Angeboten des ThILLM in einer Qualitätsstrategie berücksichtigt werden.

Die LIGA Thüringen schlägt vor, dass in einem Expert*innenrat/Netzwerk der frühen Bildung in Thüringen alle Akteur*innen gleichberechtigt zusammenarbeiten, um die Qualität in diesem Bereich weiterzuentwickeln.

 

2 b) Welche Hinweise und Erfahrungen liegen aus Berlin, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen vor, die über eine entsprechende landesseitige Unterstützungsstruktur verfügen?

Die Frage ist aus Sicht der LIGA Thüringen nicht zu beantworten, da keine Erfahrungswerte aus anderen Bundesländern vorliegen.

 

2 c) Welche rechtlichen, finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen sind notwendig, um in Thüringen ein Zentrum für frühe Bildung aufzubauen?

Die Voraussetzungen sind davon abhängig, welche Struktur für einen solchen Expert*innenrat/Netzwerk gewählt wird und wie mit den bereits etablierten Akteur*innen und Strukturen in der frühkindlichen Bildung zusammengearbeitet wird.

Grundsätzlich vertritt die LIGA Thüringen die Auffassung, dass Parallelstrukturen zu bereits vorhandenen Institutionen bzw. Organisationen im Feld nicht zielführend sind. Vielmehr ist es im Sinne einer spürbaren qualitativen Weiterentwicklung in der frühkindlichen Bildung nachhaltiger, in die Strukturen vor Ort - also in die Verbesserung der Personalschlüssel resp. der Fachkraft-Kind-Relationen in den Kindergärten - zu investieren.

 

2 d) Welche Fachprofessionen sollen an einem solchen Zentrum für frühe Bildung vertreten sein, um sowohl den nötigen Wissenschafts-Praxis-Transfer als auch die praxisorientierte Unterstützung der Kindertagesstätten und ihrer Träger gewährleisten zu können?

Es ist wichtig, dass ein Expert*innenrat/Netzwerk mit den relevanten Akteur*innen im Bereich frühkindliche Bildung proaktiv agiert. Mögliche Akteur*innen im Bereich frühkindliche Bildung, die bei der Weiterentwicklung der Qualität einbezogen werden müssen, sind aus Sicht der LIGA Thüringen:

  • kommunale Spitzenverbände und LIGA-Verbände
  • Fachberatungen für Kindergärten
  • Praxisvertreter*innen
  • Träger der Erwachsenenbildung
  • Landeselternvertretung Kita
  • ThILLM
  • Vertreter*innen der Fachhochschulen und Universitäten in Thüringen
  • Vertreter*innen der Fachschulen für Erzieher*innen in Thüringen
  • TMBJS: Referat Kita, Referat Fachschulen
  • Vertreter*innen des Landesjugendhilfeausschusses Thüringen
  • Vertreter*innen des Thüringer Landtages

2. Fachkräftemangel in Thüringer Kindertageseinrichtungen und Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) im Freistaat Thüringen als Baustein zur Erzieher*innengewinnung an Kindertageseinrichtungen

(Anlage 3 und Fragenkatalog in Anlage 4)

 

Da sich die Fragestellungen in Anlage 3 an die Landesregierung richten und die Fragestellungen in Anlage 4 zum Teil redundant sind, haben wir für die Positionierung der LIGA Thüringen eine eigene Struktur gewählt.

Die LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen vertritt bzgl. des Fachkräftebedarfs in Kindergärten folgende Standpunkte:

  • Um den Fachkräftebedarf in den Thüringer KiTAs zu sichern, sind konzertierte Aktionen, die zur Verbesserung der Zugangswege zu den Fachkraftausbildungen und zur Steigerung der Attraktivität der Ausbildungsgänge - insbesondere der Erzieher*innenausbildung – beitragen, notwendig.

Die gesetzlichen Maßnahmen der vergangenen 10 Jahre haben in kleinen Schritten zu einer Qualitätssteigerung der frühkindlichen Bildung in den Kindergärten in Thüringen geführt. Es bedarf einer gemeinsamen Festlegung von Qualitätszielen (z.B. Fachkraft-Kind-Schlüssel) auf die gemeinsam hingewirkt werden muss. Durch die noch immer andauernde Corona-Pandemie hat die Belastungssituation der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen erheblich zugenommen, wurden die Handlungsnotwendigkeiten nochmals deutlich gemacht und die Fachkräftesituation verschärft. Der aktuelle „Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2021“ weist für Thüringen aus, dass für 94 % der Kinder nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung steht. Betrachtet man zudem die Personalschlüssel zwischen 2013 und 2020, wird deutlich, dass in Thüringen im Krippenbereich und in den Kindergartengruppen lediglich ein geringfügiger Ausbau der personellen Ausstattung stattgefunden hat. (Bock-Famulla u. a. 2021)

  • Die LIGA Thüringen spricht sich seit 2017 für einen Stufenplan aus, der mittel- und langfristige Qualitätssteigerungen insbesondere die Verbesserung des Personalschlüssels über Legislaturperioden hinweg festlegt.

Die Qualität der frühkindlichen Bildung in den Kindergärten in Thüringen kann nur gehalten und ausgebaut werden, wenn ausreichend qualifizierte Fachkräfte für die Umsetzung zur Verfügung stehen. Es braucht daher eine Steigerung der Attraktivität der Erzieher*innen-Ausbildung und eine Möglichkeit für einen finanzierten Quereinstieg. Dafür ist es dringend notwendig, dass der Bund seine finanzielle Unterstützung im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Verbesserung der Teilhabe in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (KiTa-Qualitäts- und -Teilhabeverbesserungsgesetz - KiQuTG) verstetigt bzw. fortschreibt und auch der Freistaat Thüringen in den qualitativen Ausbau und damit in die Zukunft der Kindertagesbetreuung investiert.

Der quantitative Bedarf an gut ausgebildeten sozialpädagogischen Fachkräften hat in den letzten Jahren insbesondere durch den Ausbau der Plätze in Kitas stark zugenommen und wird auch in den kommenden Jahren steigen. Dies auch vor dem Hintergrund dringend notwendiger Verbesserungen in den Personalstandards. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, da die Personalschlüssel in Thüringer Kindertageseinrichtungen im bundesweiten Vergleich für alle Altersgruppen auf den letzten Plätzen rangieren. Verstärkt werden die personellen Engpässe in den Kindertagesstätten durch die Altersstruktur der aktuell beschäftigten Fachkräfte.

Dies bestätigt auch eine Studie des Zentrums Digitale Transformation Thüringen (ZeTT) und des Arbeitsbereiches Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Studie untersuchte, ob und wenn ja unter welchen Rahmenbedingungen und in welchem Umfang in Thüringen zukünftig von einem Fachkräftemangel im Kita-Bereich auszugehen ist.

Auf der Grundlage des folgenden Modells wurden verschiedene Berechnungen zum zukünftigen (Ersatz)bedarf an Fachkräften in Thüringen erstellt.

Die ZeTT-Studie kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung aller benannter Faktoren davon auszugehen ist, dass in Thüringen in Perspektive 2030 ein erheblicher Mangel an Erzieher*innen bestehen wird und sich die aktuellen Rekrutierungsengpässe entsprechend vergrößern werden.

  • Die Verstetigung der praxisintegrierten vergüteten Ausbildung zur/zum Erzieher*in ist eine wirksame Maßnahme, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Die bundesweiten Evaluationsergebnisse insbesondere aus den Bundesmodellen „MEHR Männer in Kitas“, „Lernort Praxis“ und „Quereinstieg Männer und Frauen in Kitas“ zeigen deutlich auf, dass mit der Praxisintegrierten Ausbildung (PiA) neue Zielgruppen für die Ausbildung erreicht werden können. Dies sind insbesondere Quereinsteiger, also Menschen mit Lebens- und Berufserfahrung sowie Männer und Menschen mit Migrationshintergrund.

Effekte, die durch den Zugang dieser Gruppen in den Einrichtungen entstehen, sind auch qualitativer Art: „Anders qualifizierte, engagierte und interessierte Menschen, die für die Kinder spannende Themen einbringen, sollen das Leben in der Kita mit ihrer Arbeitskraft und neuen Ideen bereichern.“ (BMFSFJ/JFMK 2016)

Diese Intentionen bestätigen die Praxisvertreter*innen sowohl bundesweit als auch in den Thüringer PiA-Regionen.

  • Man kann sich auf die zukünftigen Herausforderungen im frühkindlichen Bereich nur dann einstellen und handeln, wenn es eine fundierte statistische Grundlage gibt. Deshalb müssen die Stichtagsmeldungen zum 01.03. eines jeden Jahres zeitnah ausgewertet und die Landesstatistik für den Bereich Kindertagesbetreuung zielgenauer ausgewertet werden.
    Des Weiteren empfiehlt die LIGA Thüringen dringend die Fortschreibung und Aktualisierung der Berechnung der Nachfrage und des Angebotes an pädagogischem Personal in Perspektive 2030 „Die Fachkräftesituation in Thüringer Kindertageseinrichtungen“, die erstmals im Februar 2020 vom Zentrum Digitale Transformation Thüringen (ZeTT) und dem Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie und Wirtschaftssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgelegt wurde.

Bei einer Fortschreibung sollten die regionalen Disparitäten Berücksichtigung finden. Bereits jetzt sind große regionale Unterschiede in der Fachkraftsituation in Thüringen festzustellen. Große Probleme bestehen insbesondere in ländlichen und grenznahen Regionen zu Hessen, Bayern und Niedersachsen.

  • Um die Attraktivität der Erzieher*innenausbildung zu steigern, müssen unter anderem verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten von den Fachschulen angeboten werden. Die berufsbegleitende Erzieher*innenausbildung muss so gestaltet werden, dass sie attraktiv und bezahlbar ist.
    Eine Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung könnte durch einen Wechsel zwischen Präsenzeinheiten und onlinegestützten Einheiten (z.B. blended learning) ermöglicht werden.
  • Um den regional unterschiedlichen Fachkräftebedarf abdecken zu können und die bestehenden Teams zu multiprofessionellen Teams weiterzuentwickeln, braucht es eine praktikable Rechtsgrundlage für eine Einzelfallanerkennung. Die konkrete Umsetzung sollte in einer fachlichen Empfehlung geregelt sein.

  • Um den Fachkräftebedarf im Bereich frühkindliche Bildung adäquat Rechnung zu tragen und die Ausbildungen attraktiver zu gestalten, müssen auch neue Zielgruppen erschlossen werden und die finanziellen Rahmenbedingungen verstetigt bzw. ausgeweitet werden. Deshalb sollten die Kosten für Praktikant*innen in den Bereichen staatlich anerkannte Erzieher*innen und Heilerziehungspfleger*innen sowie die Lohnkosten für Auszubildende in der PiA als Bestandteile der Betriebskosten im Thüringer Gesetz über die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindergärten, anderen Kindertageseinrichtungen und in Kindertagespflege als Ausführungsgesetz zum Achten Buch Sozialgesetzbuch (Thüringer Kindergartengesetz - ThürKigaG -) festgeschrieben werden.

Zur Praxisintegrierten Ausbildung (PiA) im Freistaat Thüringen als Baustein zur Erzieher*innengewinnung an Kindertageseinrichtungen hat die LIGA Thüringen folgende Forderungen:

Entsprechend der Förderrichtlinien „Thüringer Fachkräfteoffensive Kita“, „Thüringer Fachkräfteinitiative Kita 2.0“ ist das Modellprojekt PiA Thüringen zu evaluieren. Verantwortlich für die Evaluation ist das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport.

  • Die Ergebnisse der Evaluation müssen zeitnah transparent dargestellt und die Ergebnisse in der Umsetzung für eine gesetzliche Regelung für PiA berücksichtigt werden.
  • Pro Thüringer Schulamtsbezirk sollte mindestens eine PiA-Klasse ermöglicht werden, um allen Regionen gleichberechtigte Zugänge in Bezug auf Fragen der Erreichbarkeit und Mobilitätsradius zu verschaffen. Freie Schulen und staatliche Schulen sind gleichberechtigt bei der Umsetzung der Ausbildung zu berücksichtigen. Deshalb muss die Ausbildung auskömmlich finanziert sein. Für die Ausbildung darf kein Schulgeld erhoben werden, auch nicht an freien Schulen.
  • Der Fachkraft-Kind-Schlüssel in Thüringen gehört zum unteren Drittel im Bundesvergleich. Deshalb dürfen PiA-Auszubildende bis zum Ende der Ausbildung nicht auf den Fachkraft-Kind-Schlüssel angerechnet werden. (Ggf. sollte geprüft werden, ob entsprechende Bildungsabschlüsse oder Qualifikationen auf bspw. Prüfungsleistungen oder Praktikumszeiten Anerkennung finden können.)
  • Es braucht thüringenweite Standards in der Qualifizierung der Praxisanleitungen für alle Ausbildungsformen. Die Qualifizierung der Praxisbegleiter*innen, die derzeit nur am ThILLM kostenfrei angeboten wird, sollte für alle adäquate Bildungsträger so ermöglicht werden, dass diese kostenfrei genutzt werden kann.
  • Das DQR-6-Level in der Erzieher*innenausbildung muss erhalten bleiben.

Bisher werden die Personalkosten der Anerkennungspraktikant*innen über § 28 ThürKigaG geregelt und vom Land finanziert.

  • Die Vergütung der PiA-Auszubildenden sollte ebenfalls in § 28 ThürKigaG verankert und dieser Finanzierung gleichgestellt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, die Kosten für Praktika der Heilerziehungspfleger*innenausbildung über diese Regelung zu finanzieren.

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