Stellungnahme der LIGA zum Fünften Gesetz zur Änderung des Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetzes

Allgemeine Anmerkungen

Wir stehen für die Rechte von geflüchteten Menschen, für Ihren Schutz und ihre schnelle und umfassende Teilhabe an der Gesellschaft. Eine Unterbringungsform, die die Menschenwürde verletzt, zur Isolation führt und vor allen Dingen auf Abschiebung orientiert ist, ist ein Irrweg und schadet uns allen.“ (Isolation beenden – das Ankommen fördern – faire Asylverfahren sicherstellen. Aufruf zu einer zukunftsorientierten Erstaufnahme von Asylsuchenden in Deutschland. 27.07.2021). Dieser Aufruf, initiiert von der Diakonie Deutschland, dem Deutschem Caritasverband, dem Paritätischem Gesamtverband, dem Arbeiterwohlfahrt Gesamtverband und PRO ASYL ist die Grundlage für die Position der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen e.V. für eine zukunftsorientierte Erstaufnahme in Deutschland und im Besonderen in Thüringen.

Daher spricht sich die LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen e.V. gegen jede Maßnahme aus, die zu einer langjährigen Verweildauer von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung führt und lehnt daher die vorgeschlagene Änderung des Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetzes ab. Eine Anpassung der Höchstverweildauer der Geflüchteten auf 18 Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung verlängert den Zeitraum der Isolation, verhindert schnelle Integration und verursacht damit Folgekosten, die sich in den Kommunen niederschlagen werden.

Zu den Fragen im Einzelnen

1. Wie bewerten Sie die Verknüpfung der Aufnahmepflicht der Kommunen mit dem Vorhandensein von gültigen Personaldokumenten zur Identitätsfeststellung bei Asylsuchenden?

Mit der im Gesetzentwurf für § 1, im letzten Satz vorgeschlagenen Verknüpfung der kommunalen Verteilung mit der Mitwirkung bei der Identitätsklärung würde der Freistaat Thüringen seine Gesetzgebungskompetenz überschreiten. Aus Art 74 GG Nr. 6 ergibt sich, dass Angelegenheiten Geflüchteter Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sind, d.h. gemäß Art. 72 GG haben die Länder nur dann eine Gesetzgebungskompetenz solange und soweit der Bund nicht schon eine bundesgesetzliche Regelung getroffen hat. Im vorliegenden Fall ist dies durch das AufenthG bereits umfassend und abschließend geschehen.

Diese Verknüpfung der Aufnahmepflicht der Kommunen mit dem Identitätsnachweis ist abzulehnen. Mitwirkungspflichten zur Identitätsklärung werden durch das Asylgesetz geregelt. Der Gesetzgeber hat für Personen mit ungeklärter Identität umfangreiche Sanktionen während und nach dem Asylverfahren festgeschrieben. Nach Beendigung des Asylverfahrens greift die „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“ (§ 60b AufenthG), welche u.a. Arbeitsverbote, weitreichende Leistungskürzungen oder eine Wohnsitzauflage nach sich zieht. Die Verknüpfung der Aufnahmepflicht der Kommunen mit dem Vorhandensein von Personaldokumenten entspricht einer zusätzlichen Sanktionierung, die deutlich über den bundesgesetzlichen Rahmen hinausgeht und nicht zu rechtfertigen ist. Zudem wirkt sich eine Verlängerung des Aufenthaltes in der Erstaufnahmeeinrichtung negativ auf den Integrationsprozess aus und verhindert den Zugang zu sozialer und beruflicher Teilhabe mit den entsprechenden Folgekosten.

Da Flüchtlingsangelegenheiten nicht im Katalog des Art. 72 II GG aufgezählt sind, darf der Freistaat Thüringen keine vom Aufenthaltsgesetz abweichenden, weitergehenden Regelungen treffen. Die vorgeschlagene Verknüpfung der kommunalen Verteilung mit der Mitwirkung bei der Identitätsklärung, ist daher als verfassungswidrig abzulehnen.

 

2. Mit welchen Möglichkeiten kann im Rahmen des Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetzes zusätzlich oder alternativ auf das Vorhandensein eines Identitätsnachweises eingewirkt werden?

Da bereits umfängliche Mitwirkungspflichten und Sanktionen durch die Bundesgesetzgebung festgeschrieben sind, werden im Rahmen des Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetzes keine zusätzlichen oder alternativen Möglichkeiten einer Regelung gesehen.

 

3. Welche positiven sowie negativen Auswirkungen hat die beabsichtige Gesetzesänderung für die Asylsuchenden in Hinblick auf die Dauer und den Erfolg des Asylverfahrens und/oder auf den Integrationsprozess?

Wir erwarten keine positiven Auswirkungen der beabsichtigten Gesetzesänderung in Bezug auf Dauer und Qualität des Asylverfahrens.

Keine signifikante Beschleunigung des Asylverfahrens bei längerer Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung

Das BMI propagierte das Konzept der AnkER-Zentren, welches maßgeblich auf einer Verlängerung der Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahme basiert, mit dem Ziel das Asylverfahren zu beschleunigen und bei einer negativen Bescheidung eine schnellere Durchführung der Abschiebung zu realisieren. In mehreren Bundesländern existieren seit 2018 AnkER-Zentren oder funktionsgleiche Einrichtungen. Sogar im inzwischen vorliegenden Evaluationsbericht des BAMF (vom 24. Februar 2021) ist belegt, dass dieses Konzept keine signifikante Beschleunigung des Asylverfahrens bewirkt hat. Asylverfahren von in AnkER-Einrichtung lebenden Geflüchteten dauern durchschnittlich 77 statt der sonst durchschnittlichen 82 Tage, obwohl die Asylverfahren aus AnkER-Einrichtungen priorisiert werden. Das Konzept der AnkER-Einrichtungen hat sein Hauptziel somit verfehlt und ist als gescheitert anzusehen, da die Verlängerung der Unterbringungsdauer in der Erstaufnahmeeinrichtung zu keiner wesentlichen Beschleunigung des Asylverfahrens führt.

Thüringen sollte aus dieser Erfahrung anderer Bundesländer lernen und deren Fehler nicht wiederholen. Stattdessen sollte der Freistaat bei seiner Politik der möglichst frühzeitigen dezentralen Unterbringung Asylsuchender bleiben und den Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung auf wenige Wochen (max. 3 Monate) begrenzen. Nur so lassen sich die negativen sozialen Folgen einer längeren Unterbringung in Massenunterkünften der Erstaufnahme vermeiden. Von Beginn an sollte das Ankommen im Mittelpunkt stehen und Integration gefördert werden. Eine Unterbringungsform, die die Menschenwürde verletzt, zur Isolation führt und vor allen Dingen auf Abschiebung orientiert ist, ist ein Irrweg.

Negative Auswirkung einer längeren Verweildauer in der EAE auf die Qualität der Asylverfahren

Aus Sicht der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege in Thüringen ist ein Asylverfahren dann erfolgreich, wenn es ein faires Verfahren ist, in dem die Asylsuchenden umfänglich über ihre Rechte aufgeklärt werden, im Verfahren behördenunabhängige Beratung wahrnehmen und ggf. auch mit anwaltlicher Unterstützung ihre Rechte verfolgen können.

In der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl gibt es ein landesgefördertes Projekt der Asylverfahrensberatung (über den KK Henneberger Land, Mitglied der Diakonie Mitteldeutschland), das die Menschen während ihres Aufenthalts einzelfallbezogen zum Asylverfahren berät. Das Projekt stößt schon jetzt an seine Kapazitätsgrenzen, bei einer Verlängerung der Aufenthaltsdauer ohne entsprechende Aufstockung des Projektes, würde die Beratungsqualität und damit auch das Asylverfahren zwangsläufig leiden. Die Asylverfahrensberatung des BAMF kann die einzelfallbezogene Beratung durch freie Träger nicht ersetzen. Schon jetzt ist außerdem für Asylsuchende aus der Erstaufnahmeeinrichtung der Zugang zu anwaltlicher Vertretung erschwert, da sich im näheren Umkreis nicht genügend Anwälte mit den im Migrationsrecht erforderlichen Spezialkenntnissen befinden. Asylsuchende können Rechtsschutz im Asylverfahren nur eingeschränkt wahrnehmen. Diese Situation würde bei Verlängerung der Verweildauer weiter verschärft.

 

4. Welche positiven sowie negativen Auswirkungen hat die beabsichtige Gesetzesänderungen für die aufnehmenden Kommunen?

Ob eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl tatsächlich zu der angenommenen finanziellen Entlastung der Kommunen bzgl. Kosten für die Unterbringung führen würde, ist fraglich. Einerseits halten die Kommunen Gemeinschaftsunterkünfte vor, für die sie sich vertraglich über einen festgesetzten Zeitraum gebunden haben, d.h. auch bei Leerstand fallen für die Kommunen Kosten an. Eine längere Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung würde nur den Zeitpunkt hinauszögern, ab dem für die Kommunen Unterbringungskosten entstehen. Darüber hinaus führt ein längerer Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung absehbar zu Folgekosten nachholender Integration in den Kommunen. Je länger Menschen die Möglichkeit zur Integration und zum Ankommen im Sozialraum vorenthalten wird, desto aufwendiger, teurer und langwieriger wird es für die Kommunen diese Integrationsdefizite auszugleichen. Es ist zu erwarten, dass die Kosten für Integrationsangebote auf kommunaler Ebene steigen werden. Menschen können beispielsweise erst später mit dem Spracherwerb beginnen, haben dadurch erst später die Chance sich im Arbeitsmarkt zu integrieren und sind deshalb länger auf Sozialleistungen zur Unterstützung angewiesen.

 

5. Welche positiven sowie negativen Auswirkungen hat die beabsichtigte Gesetzesänderung für die Situation in und um die Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl?

Sollte es zu einer Verlängerung der Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl kommen, ist damit zu rechnen, dass die Spannungen vor Ort zunehmen werden. Eine dichtere Belegung der Einrichtung bei Fortbestehen der bekannten Probleme (z.B. fehlende Bewegungsfreiheit, fehlende Freizeitangebote, fehlende Privatsphäre, fehlende Integrationsangebote) erhöht das Gewaltpotenzial innerhalb des Hauses. Menschen in lagerähnlichen Bedingungen auf engem Raum und ohne zeitnahe Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben unterzubringen, stellt zudem eine enorme psychische Belastung dar.

 

6. Wie bewerten Sie die Verteilung der Flüchtlinge auf Thüringer Kommunen nach aktuell geltendem Recht?

Im ersten Halbjahr 2021 lag die Zahl der Asylerstanträge bundesweit bei 81.284, bis zum Jahresende 2021 hochgerechnet wird voraussichtlich ein Wert zwischen dem Niveau der Jahre 2013 (127.023) und 2014 (202.834) erreicht werden. Auf Thüringen sind davon in den ersten sechs Monaten 1.511 Neuanträge entfallen. Ein Übersteigen der Aufnahmekapazität der Kommunen für neueintreffende Asylsuchende, ist nicht zu erwarten.

Die LIGA begrüßt die derzeitige Praxis einer zügigen Zuweisung der Flüchtlinge in die Kommunen. Bei der Verteilung ist jedoch die Identifizierung besonderer Schutzbedarfe (Opfer von Menschenhandel, psychisch Kranke, Schwangere, etc.) dringend erforderlich und sollte stärker in den Blick genommen werden. Dies ist europarechtlich vorgeschrieben, findet jedoch in Thüringen zu wenig Anwendung. Vor allem hinsichtlich der Feststellung und eines Aufbaus von zugeschnittenen Versorgungsstrukturen.

 

7. Welche Alternativen sehen Sie zur Erhöhung der Höchstverweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung, um zu einer für die Kommunen gerechten und handhabbaren Verteilung zu gelangen?

Wir sehen keine Alternativen zur geltenden gesetzlichen Regelung, die eine gerechte Lastenteilung zwischen allen Landkreisen herstellt und gleichzeitig den Interessen der Asylsuchenden nach möglichst frühzeitig einsetzender Integration im Gemeinwesen Rechnung trägt.

Auch unter dem Aspekt der Pandemiebekämpfung empfehlen wir eine frühzeitige dezentrale Unterbringung möglichst in Wohnungen oder wohnungsähnlichen Unterkünften. Auch auf kommunaler Ebene sollte Gemeinschaftsunterbringung möglichst vermieden werden. Den Kommunen ist zu empfehlen, ihre Unterbringungsstrategie künftig entsprechend ausrichten.

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