Ehrenamt in Thüringen stärken! Wege zu einer progressiven Engagementpolitik. Forderungspapier

Die Gesamtfassung des Forderungspapiers "Ehrenamt in Thüringen stärken!" hier zum Download

Bürgerschaftliches Engagement rückt gerade angesichts der herrschenden Vertrauenskrise zwischen Gesellschaft und Politik besonders in den Fokus. Verschiedene Studien belegen, dass die Legitimation des Sozialstaates und das Vertrauen in staatliche Institutionen schwindet. Wenn, wie laut einer Allensbach-Umfrage von 2022, 45 Prozent der Befragten meinen, die Bundesrepublik sei eine „Scheindemokratie“, in der die Bürger nichts zu sagen hätten[1], herrscht dringend Handlungsbedarf.

Besonders im Osten Deutschlands sehen sich viele Menschen in kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht auf der Verliererseite. Verunsicherung und Zukunftsängste bestimmen den Bewusstseinszustand von Menschen. Sie führen weniger zu einer Spaltung in der Gesellschaft als zu einer Radikalisierung der politischen Ränder (FES „Mitte-Studie“, S. 4 ff.). Das hat gravierende Auswirkungen auf den Bereich des bürgerschaftlichen Engagements. Menschen, deren Vertrauen in den Staat und staatliche Institutionen gering ist, neigen nicht nur zu populistischen und demokratieabgewandten Einstellungsmustern und Verhaltensweisen, sie engagieren sich auch weniger für das Gemeinwohl.

Gleichzeitig ändert sich der Charakter des bürgerschaftlichen Engagements. Die beim 10. Thüringer Sozialgipfel vertretenen Verbände merken, dass es schwieriger wird, Menschen zu finden, die eine Funktion übernehmen wollen. Laut neuem ZiviZ-Survey 2023 stellen viele etablierte Organisationen fest, dass sich vermehrt Nichtmitglieder in ihren Projekten engagieren. Vor allem junge Menschen wollen sich über einen überschaubaren Zeitraum für ein bestimmtes Projekt engagieren. Obwohl die Engagementquote in Thüringen im Vergleich zu anderen ostdeutschen Ländern hoch ist, erodiert das klassische Ehrenamt.

Engagement befördert individuelle Teilhabe und die Identifikation mit Menschen und dem Gemeinwesen. Es befördert gesellschaftliche Integration und stabile demokratische Strukturen. Es übernimmt in einer pluralen, subsidiär ausdifferenzierten Gesellschaft eine tragende Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ohne die Hauptamtlichkeit zu ersetzen, hat es ein erhebliches und für Kommunen unersetzbares wertschöpfendes Potential. Dort, wo bürgerschaftliches Engagement verloren geht, sind demokratische Strukturen in Gefahr.

Angesichts dieser Befunde und des Auseinanderdriftens von gesellschaftlichen Gruppen erscheint es den organisierenden Verbänden des 10. Thüringer Sozialgipfels wichtig, demokratische Strukturen als Zusammenhalt stärkende Elemente zu erhalten und zu fördern. Dazu gehört zweifelsohne, gleichwertige Lebensverhältnisse und soziale Gerechtigkeit zu sichern und wieder herzustellen. Das Ehrenamt ist kein Ersatz für fehlende soziale Gerechtigkeit. Menschen dürfen sich nicht, weil sie sozial benachteiligt sind, als abgekoppelt fühlen. Dazu gehört aber auch, gemeinwohlorientiertes Engagement zu fördern, wertzuschätzen und es in demokratische Strukturen einzubinden.

 

[1] Zeit Online vom 11. April 2022.

Unsere Forderungen

Das Recht, auf das sich unsere Forderungen beziehen, hat mit Bezug auf das Ehrenamt Verschiedenes zu leisten: die Förderung und die Ermöglichung des Engagements, den Schutz der Ehrenamtlichen, es hat Anreize zu schaffen und einen Nachteilsausgleich zu gewährleisten. Darauf beziehen sich unsere Forderungen.

 

Wir fordern folgendes:

1. Festschreibung in der Verfassung und daraus resultierende Effekt

Ähnlich der Hessischen Verfassung braucht es eine Verankerung der Ehrenamtsförderung als Staatsziel in der Thüringer Verfassung. Die Würde des Verfassungsranges anerkennt, dass das Ehrenamt eine wichtige Säule für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für eine demokratische Kultur ist. Der Ehrenamtssektor ist eine den eigenen Handlungslogiken folgende Sphäre, die es im besonderen Maße zu schützen und zu fördern gilt.

Mit dieser Forderung verbindet sich ein Gesellschaftsbild, in dem Menschen Verantwortung für ihr Gemeinwesen übernehmen, es selbst gestalten und verändern. Der Verfassungsrang des Ehrenamtes ist nicht nur deklaratorisch. Seine Förderung ist eine Pflichtaufgabe und in Gesetzen als Pflichtaufgabe zu formulieren. Dabei geht es nicht um Regulierung, sondern um Legitimation, um Rechte und Kompetenzen des Ehrenamtes in Thüringen.

Die Thüringer Kommunalordnung ist, was die Förderverpflichtung betrifft, diesbezüglich zu präzisieren und Engagementförderung als kommunale Pflichtaufgabe festzuschreiben. In den Kommunen sind Ansprechpartner für ehrenamtlich Engagierte einzusetzen, deren zeitliches Budget ist weit über das der gegenwärtigen Ehrenamtsbeauftragten auszuweiten.

Alle das Ehrenamt betreffenden Thüringer Gesetze und Verordnungen mit Auswirkungen auf das Ehrenamt sind darauf zu prüfen, wie bürgerschaftliches Engagement besser, verbindlicher und unbürokratischer geregelt und gefördert werden kann.

2. Förderung der Ehrenamtsstrukturen

Wir fordern, dass die staatliche Förderung des Ehrenamtes auf der Grundlage einer partizipativ erarbeiteten und durch den Landtag zu beschließenden Landesstrategie als eine Pflichtaufgabe formuliert wird. Dabei bezieht sich die Förderung und Finanzierung vor allem auf die Engagement-Infrastruktur, derer es bedarf, damit Ehrenamt stattfinden kann.

Wir erachten als zentrale Aufgabe die Schaffung einer resilienten Engagement-Förderinfrastruktur, die neben der Thüringer Ehrenamtsstiftung auch auf ein flächendeckendes Netz von Freiwilligenagenturen und die lokale Engagementförderung sowie weitere Akteure fokussiert. Die der Ehrenamtsstiftung und den Kommunen bereitgestellten Mittel sollten auskömmlich sein, ggf. erhöht und gesetzlich festgeschrieben werden.

Die Stärkung der Engagementförderung in Thüringen bezieht sich aber nicht nur auf die zur Verfügung gestellten Förderbeträge, sondern auf eine Kompetenzerweiterung. Es braucht im Sinne einer Experten- und Innovationsfunktion eine breit angelegte Beratung für die Kommunen sowie für die Engagierten vor Ort.

Eine Engagementförderpolitik in Thüringen sollte mindestens folgende Punkte beinhalten:

  • Es braucht verstärkt adäquate Qualifizierungsangebote für Ehrenamtliche. Das bestehende Angebot an Seminaren und Fortbildungen muss thematisch erweitert werden.
  • Digitalisierung hält auch im Ehrenamtsbereich Einzug. Hierbei braucht es Unterstützung für Ehrenamtsorganisationen, ihre Verwaltungsaufgaben, ihre Vernetzung, ihre Mitgliederkontakte und Veranstaltungen in digitalen Formaten zu realisieren. Zudem steigern moderne Medien die Attraktivität des klassischen Engagements in Vereinen besonders für Jugendliche und junge Menschen.
  • Besonders im ländlichen Raum ist es wichtig, Engagementstrukturen nachhaltig zu stärken und Akteure für Aktivitäten vor Ort zu unterstützen. Es gilt, sie gut zu begleiten, wenn es darum geht, Aktivitäten und Strukturen neu aufzustellen und Menschen attraktive Möglichkeiten zu bieten, sich für gemeinsame Werte und Ziele demokratisch zu engagieren. Dafür müssen neutrale, themenübergreifende Strukturen zur Engagementförderung eingerichtet und gestärkt werden.
  • Der Ausbau einer Würdigungs- und Anerkennungskultur muss passgenau, d.h. den Verhältnissen vor Ort und sich wandelnden Werthaltungen, angepasst sein.
  • Die Förderung des Engagements von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollte verstärkt werden. Dazu gehört die Heranführung von Jugendlichen an das Engagement durch schulische Lernprozesse (service-learning).
  • Es braucht eine stärkere Förderung des ehrenamtlichen Engagements für Frauen, um sie stärker in Vorstandsämtern zu repräsentieren. Entsprechende Angebote und Leistungen müssen so konzipiert sein, dass eine Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Ehrenamt gelingen kann. Hierbei braucht es gute Qualifizierung und niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeiten. Eine freiwillige Selbstverpflichtung der Vereine kann helfen, Frauen in Vorstandspositionen zu fördern.
  • Um inklusives Engagement von Menschen mit Beeinträchtigungen zu ermöglichen und auszubauen, braucht es die Finanzierung von Ehrenamtsassistenz für die Betroffenen. Ein barrierefreier Zugang ist grundsätzlich notwendig.

3. Ermöglichung des Ehrenamtes: Entbürokratisierung und Unterstützung

In den bestehenden Engagement-Förderstrukturen werden die Aspekte der Beratung und Vermittlung nicht ausreichend berücksichtigt. Es gibt zu wenig Mitwirkungs- und Beteiligungsformen für Ehrenamtliche und die Verwaltungsvorschriften und insbesondere das Zuwendungsrecht sind zu kompliziert und voraussetzungsreich.

Wir fordern:

  • Notwendig ist eine flächendeckende Beratungs- und Unterstützungsstruktur für Engagierte, die Beratung, Vermittlung, Qualifizierung, Infrastruktur, Versicherung und Nachteilsausgleich gewähren muss. Ohne hauptamtliche Begleitung ist ehrenamtliches Engagement oft nicht möglich. Das impliziert, dass es auch in den kommunalen Verwaltungen Ansprechpartner geben muss, die das Ehrenamt umfassend unterstützen.
  • Die Beratungs- und Unterstützungsstrukturen müssen sowohl traditionelle Vereine mit ihren rechtlichen Problemen als auch jene Engagierten in den Blick nehmen, die sich außerhalb solcher Organisationen engagieren. Gerade für das moderne, zeitlich befristete und sich an Projekten orientierende Engagement sind Strukturen zu schaffen, die dieses bürgerschaftliche Engagement nachhaltig in Kommunen befördern können.
  • Somit braucht es auch niedrigschwellige Zugangsstrukturen und motivierende Umfelder für Engagierte, um vor allem jene zu erreichen, die sozial benachteiligt und in ihren Teilhabechancen eingeschränkt sind.
  • Ganz wichtig ist eine unbürokratische, aufwandsminimierte, haftungsreduzierte und vertrauensbasierte Förderung mit Mitteln und Ressourcen für das Ehrenamt. Das Förderrecht ist daraufhin zu prüfen, inwiefern es barrierearm für Ehrenamtliche und ehrenamtlich geführte Vereine handhabbar ist. Auch Ehrenamtliche, die nicht in Vereinen organisiert sind, bzw. Gruppen, die keine juristischen Personen sind, sollten Gegenstand von Förderung sein. Dazu braucht es rechtliche Rahmenbedingungen.

Die Ermöglichung des Ehrenamtes bezieht sich aber nicht nur auf eine unbürokratische Förderung durch finanzielle Ressourcen, sondern auf einen barrierearmen, förderfreundlichen Zugang zur Öffentlichen Verwaltung, zu anderen Ressourcen wie Räumen, Infrastrukturen und Informationen. In allen Kommunen (Landkreise und kreisfreien Städte) sollte es deshalb als Weiterentwicklung der bisherigen Ehrenamtsbeauftragten eine Stabsstelle zur Förderung des Ehrenamtes geben, die eine Leitfunktion für die öffentliche Verwaltung hat und die als Vernetzungsstelle zu zivilgesellschaftlichen Akteuren und Trägern des Ehrenamtes dient. Es bedarf einer neuen und offenen Kultur für das Ehrenamt in Thüringen.

4. Schutz der Ehrenamtlichen und hinreichende Versicherung im Ehrenamt

Engagierte müssen in der Ausübung ihres Ehrenamtes adäquat vor Risiken geschützt sein. Während die Unfallversicherung für organisierte Ehrenamtliche gesetzlich geregelt ist, stellen sich gerade für kleine Vereine immer wieder Haftungsfragen für ehrenamtliche Vorstände. Die Frage der Haftpflichtbeschränkung ist deshalb virulent, weil eine Haftpflichtbeschränkung über Fördermittel bisher ausgeschlossen ist und die Prüfszenarien nach der Inanspruchnahme von Fördermitteln bürokratisch überlastet, fehlerintolerant und restriktiv sind. Wir fordern in diesem Zusammenhang eine Haftpflichtbeschränkung für Vereine. Es haften ehrenamtliche Vorstände bei der Inanspruchnahme von Fördermitteln, insbesondere für kleine Vereine, die keine eigenen Einnahmen erzielen. Eine Haftpflichtbeschränkung ist insbesondere bei einfacher Fahrlässigkeit zu gewähren und über eine Schiedsstelle zu entscheiden.

Die Schutzfunktion des Rechts geht allerdings weiter. Wir fordern, dass Ehrenamtliche auch ideell zu schützen sind. Es geht um Schutz vor Ausgrenzung, etwa durch Verwaltung und mangelnde Wertschätzung. Die Prüfungsinstanzen sollten sich vor allem auf Beratung und Unterstützung der zu fördernden Vereine konzentrieren.

5. Nachteilsausgleiche für ehrenamtlich Engagierte

Bürgerschaftlich Engagierten dürfen in ihrer Tätigkeit keine Nachteile entstehen, d. h. ihnen sollte bei der Ausübung ihres Ehrenamts keine Kosten entstehen. Während für Ehrenamtliche im Sport und für ehrenamtliche Abgeordnete Aufwandsentschädigungen gesetzlich geregelt sind, sind sie für viele Bereiche des Ehrenamts nicht geregelt und es erfolgt kein adäquater Nachteilsausgleich. Die komplizierte und abschreckende Praxis der Fahrgelderstattung ist hier ein Beispiel. Wir fordern, dass die Erstattung von Fahrgeldern der Dynamik der Preisentwicklung angepasst wird, im Thüringer Reisekostengesetz (ThürRKG) verankert wird und für das Ehrenamt steuerfrei ist. Sinnvoll erscheint uns, dass mit Bezug auf das Ehrenamt eigene Regeln getroffen werden.

Des Weiteren fordern wir, dass die steuerlichen Freibeträge für Aufwandspauschalen (analog der Übungsleiterpauschale) angehoben werden und dass unkompliziert für alle Bereiche Aufwandspauschalen geltend gemacht werden können. Im Förderrecht muss in den jeweiligen Richtlinien die Zahlung von pauschalen Aufwandsentschädigungen verankert werden, die sich am wöchentlichen Zeitaufwand für das Ehrenamt orientiert.

Diese Forderung nach unkomplizierten Regelungen für Aufwandspauschalen verbinden wir mit der Erwartung der Weiterentwicklung der EhrenamtsCard. In Thüringen wurde die EhrenamtsCard 2006 eingeführt. Die damit verbundenen Vergünstigungen sind regional allerdings sehr unterschiedlich. In Thüringen steht EhrenamtsCard-Nutzern eine Broschüre mit Vergünstigungen im ganzen Freistaat zur Verfügung. Generell braucht es eine flächendeckende Ausweitung der EhrenamtsCard-Vergünstigungen, die ggf. wie z.B. in Bayern vom Land gegenfinanziert werden.

 

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