Bericht zur virtuellen BAG-Tagung 2020
von Peter Kießling
Die diesjährige Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung fand nicht wie geplant in Freiburg in Baden-Württemberg, sondern ortsunabhängig im Internet statt. Dem Team um Geschäftsführerin Ines Moers gelang es, die Ketten des gewohnten Formats zu sprengen und beinahe alle angekündigten Inhalte als Video-, Audio- und Live-Beiträge den Teilnehmer*innen zugänglich zu machen. Sogar der Austausch untereinander wurde durch eine Chatfunktion ermöglicht und auch Fragen zu den einzelnen Beiträgen wurden von den Referent*innen live beantwortet. Beiträge mehrfach anschauen zu können und dabei bequem am Schreibtisch mitschreiben zu können, stellten sich als großer Pluspunkt heraus. Letztendlich konnte Ines Moers über 200 Teilnehmer*innen begrüßen und die Tagung trotz Corona ein großer Erfolg werden.
Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung zu den einzelnen Beiträgen der Tagung:
Schuldnerberaterin Liz Ehret und Referent des Städte- und Landkreistages Daniel Werthwein zeigten die Besonderheiten der Beratungslandschaft in ihrem Bundesland auf.
Baden-Württemberg liegt laut Schuldneratlas mit einer Überschuldungsquote von 8,23 % knapp vor Thüringen (9,21%). Insgesamt gibt es 130 Beratungsstellen in freier und kommunaler Trägerschaft. Allerdings nimmt nur ein geringer Teil der Beratungsstellen an der Bundesstatistik teil.
Bezogen auf die Verbraucherinsolvenzberatung erfolgt die Förderung über Fallpauschalen, gestaffelt nach der Anzahl der Gläubiger. Das lässt sich das Bundesland im Haushalt 2020/21 2,25 Mio. Euro kosten. Eine Besonderheit stellt die fehlende Anerkennungsbehörde dar. Flache Hierarchien und geringerer Verwaltungsaufwand stehen hier dem Kampf mit unseriösen gewerblichen Schuldnerberatungsstellen gegenüber. Eine weitere Besonderheit sind die vielen zustande kommenden außergerichtlichen Einigungen, die dank vieler Stiftungen und Fonds und ganz konkret mit zinslohen Darlehen gelingen.
Cornelius Wichmann, Referent beim Deutschen Caritasverband in Freiburg, empfiehlt in seinem Live-Webinar die momentanen Anpassungen wegen der Covid-19-Pandemie zu nutzen, da die digitalen Beratungsangebote generell populärer werden.
Dabei berichtet er von den Erfahrungen der Onlineberatung des Caritasverbandes, die 2001 startete. Gemeint ist damit eine Plattform, bei der die Ratsuchenden anonym ihre Fragen stellen können und innerhalb von 48 Stunden eine schriftliche Antwort erhalten. Vorteile der Onlineberatung seien Niedrigschwelligkeit, zeitliche und örtliche Unabhängigkeit, Erreichen neuer Zielgruppen und Erleichtern des Erstkontakts. Nachteilig ist vor allem die gewöhnungsbedürftige Form der Beratung via Textnachrichten.
Eine reine Onlineberatung ist allerdings nicht vorgesehen. Diese soll als paralleles Angebot betrachtet werden. Unter dem Stichwort „Blended Counseling“ (gemischte Beratung) findet man hilfreiche Tipps zur Umsetzung einer gezielten Verknüpfung von Face-to-Face-Beratung und digitalen Formaten.
Die aktuelle Plattform der Caritas ist primär für die Smartphone-Nutzung ausgelegt und funktioniert dabei wie ein typischer Messenger, ist also auch echtzeitfähig und die Anfragen können sofort beantwortet werden. Neben Hilfe zum Thema Schulden, können Ratsuchende auch zu Sucht, Schwangerschaft, Reha, Migration uvm. Unterstützung erhalten. Zukünftig sollen auch Chatbots mit automatischen Antworten und Video-Beratung implementiert werden.
Leider gibt es diese Plattform bisher nur beim Caritasverband. Eine ähnliche Lösung innerhalb der anderen Verbände ist wünschenswert.
Prof. Dr. Eva Münster von der Uni Mainz beschreibt in ihrem Vortrag den Zusammenhang von Krankheit und Überschuldung. Sie stellt dabei die Ergebnisse ihrer Studie von 2018 vor, zeigt die medizinische Versorgungslage Überschuldeter und notwendige Maßnahmen auf. Die Ergebnisse der Studie beruhen auf der Auswertung von 699 Fragebögen.
Dass Bildung, Freiheit und Wohlstand eng mit guter Gesundheit verbunden sind, ist schon lange bekannt. Betrachtet man die Auswirkungen von Überschuldung auf den Gesundheitszustand zum jetzigen Zeitpunkt – auch in Verbindung mit Covid-19 - wird deutlich wie dringend Maßnahmen umgesetzt werden müssen:
Unter Rückgriff auf Daten des Robert-Koch-Instituts zur gesundheitlichen Lage der Gesamtbevölkerung zeigt sich, dass Überschuldete deutlich öfter ihren Gesundheitszustand schlechter bewerten und fünf- bis sechsmal häufiger unter chronischen Erkrankungen leiden. Obwohl sich daraus ein erhöhter Bedarf an Medikation ergibt, nehmen Überschuldete viermal so wenig Medikamente ein wie die Gesamtbevölkerung. Auffällig ist allerdings, dass Schlafmittel wiederum wesentlich häufiger eingenommen werden.
Insbesondere die Kosten der Medikamente sind hier ausschlaggebend und führen dazu, dass Rezepte verzögert oder gar nicht eingelöst werden, die Dosis eigenverantwortlich reduziert und Mittel seltener eingenommen werden. Zwar wäre eine finanzielle Entlastung durch eine Zuzahlungsbefreiung wegen Erreichen der Belastungsgrenze (1 bzw. 2 % des jährlichen Bruttoeinkommens) möglich. Viele Betroffene kennen jedoch weder diese Regelung, noch das Verfahren hierzu.
Auch bei der Versorgung mit Verhütungsmitteln, Brillen und Zahnarztbehandlungen zeigen Überschuldete große Probleme. Sie verzichten oder nehmen neue Schulden dafür auf, womit die medizinischen Probleme weiter zunehmen und Behandlungskosten weiter steigen.
Neben einer weitreichenderen Längsschnittstudie zur Problematik plädiert Prof. Eva Münster für eine stärkere Vernetzung von Medizin und Schuldnerberatung, einen freien Zugang zu notwendigen Medikamenten und Verhütung, eine transparente und unbürokratische Härtefallregelung sowie Informationsvermittlung bei Patient*innen und medizinischem Personal.
Der maßgeblich an der Umsetzung beteiligte Klaus Hofmeister, Abteilungsleiter im Sozialreferat in der Landeshauptstadt München, schilderte in einem Video- und Live-Beitrag wie und was sich 2019 bei der Finanzierung der Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung in Bayern verändert hat.
Als erstes Bundesland hat Bayern 2019 die Finanzierung der Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatungsstellen bei den Kommunen gebündelt, auch wenn nach wie vor Landesmittel verwendet werden. Auch hat man die aufwendigen Fallpauschalen zu Gunsten einer Pauschalfinanzierung basierend auf Einwohnerzahlen aufgegeben. Außerdem konnten Lücken im Beratungsstellennetz geschlossen und die Mittel erheblich aufgestockt werden. Insgesamt sind 8,8 Mio. Euro für 2020 vorgesehen.
Als Erfolgsfaktoren für die schwierigen Verhandlungen mit den vielen verschiedenen Akteur*innen gab Klaus Hofmeister die gute Zusammenarbeit mit öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege, ausdauerndes Klinkenputzen an der Basis und die Studie zum gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen der staatlich anerkannten Schuldnerberatung in Österreich („Schuldnerberatung rechnet sich fünffach“) an.
Schuldnerberater Heiner Gutbrod stellte gemeinsam mit ehemaligen Ratsuchenden sein erfolgreiches Präventionsprojekt vor. Als Jugend-Schulden-Berater mit Präventionsauftrag hat Heiner Gutbrod einige Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen. Trotzdem stieß er bei seinen Präventionsveranstaltungen immer wieder auf taube Ohren. Unter einem Hinweis von Dr. Christoph Mattes versuchte er sich am Peer-Ansatz und nahm ehemalige Ratsuchende mit, die ihre Geschichte erzählten, ihr Scheitern und ihren Weg zurück in geordnete Verhältnisse.
Insbesondere bei den bereits „gescheiterten“ jungen Menschen erwies sich dieser Ansatz als hilfreich. Dank der Identifikationsmöglichkeit mit den Erzählenden wird eine Arbeitsbasis für Diskussionen über Ursachen, Folgen, Wege aus der Krise und Motivation geschaffen. Die anwesenden Maßnahmenbegleiter*innen lernen dabei ihre Gruppe nochmal völlig neu kennen, während die Gruppe selbst zugänglicher für Unterstützungsformen wie Schuldnerberatung wird. Auch für die ehemaligen Betroffenen bietet dieses Format die Möglichkeit sich erneut mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und damit sogar anderen helfen zu können.
Die erzählende Person sollte bei diesem Ansatz zur Zielgruppe passen, sodass eine Identifikation mit der eigenen Lebenswirklichkeit der Teilnehmer*innen möglich ist. Größte Herausforderung könnte dabei sein, eine geeignete ehemalige Ratsuchende zu finden, die Zeit und Lust hat vor einer Gruppe fremder Personen zu sprechen.
Die Reichweite dieses Ansatzes– passende Mitwirkende vorausgesetzt – ist sehr groß, können doch sogar Multiplikator*innen, Ältere, Alleinerziehende und andere Gruppen davon profitieren.
Heiner Gutbrod betonte nochmal, dass es bei seinem Präventionsprojekt nicht darum gehe, sich niemals zu überschulden, sondern zu informieren, wo es Rat gibt und was man selbst tun kann. Überschuldung ist für ihn kein Tabu, etwas, dass nie passieren darf, sondern einer von vielen möglichen Lernschritten.
Paul Reifferscheid, Journalist aus Köln, gab in einem Videobeitrag hilfreiche Tipps zum Umgang mit Presseanfragen.
Öffentlichkeitsarbeit ist ein wichtiges Instrument, um die eigene Tätigkeit gut darzustellen und gleichzeitig ein wichtiges Thema in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu rücken. Der Bedarf an guten Geschichten ist hoch und Journalist*innen sind zeitlich kaum noch in der Lage, umfassende Recherchearbeiten zu tätigen und sind auf die Zuarbeiten anderer angewiesen. „Ruft ein Journalist in ihrer Beratungsstelle an, will er Erlösung“, so direkt formulierte Paul Reifferscheid in seinem Vortrag die Notlage der heute tätigen Journalist*innen.
Aber welche Art von Geschichten sind das? Menschen lieben Geschichten über Menschen und wollen an deren Leben teilhaben. Ein wesentlicher Bestandteil in der Aufbereitung dieser Geschichten ist, dass sie verständlich formuliert sind und möglichst wenige bzw. keine Fremdworte oder Fachbegriffe beinhalten. Das Ziel ist eine einfache Botschaft, eine Wahrheit zu vermitteln.
Auch die Beratungsstellen haben Interesse an Öffentlichkeitsarbeit. Es ist wichtig, dass die Situation der Betroffenen auch in der breiten Öffentlichkeit dargestellt und von der Gesellschaft erkannt wird. Und es ist wichtig, die Bedeutung unserer Arbeit darzustellen, um beispielsweise bei den nächsten Haushaltsverhandlungen nicht „unterzugehen“. Die zentrale Frage ist - Was will ich mitteilen? Es müssen Schnittmengen zwischen den eigenen Interessen bzw. den Interessen der Beratungsstelle und denen der Journalist*innen gefunden werden. Oft werden von Seiten der Journalist*innen Protagonist*innen gesucht. Hierbei ist unbedingt zu beachten, nicht nur Vermittler*in zu sein, denn auch die eigene Arbeit soll dargestellt werden. Und die betroffenen Menschen sollen natürlich nicht zur Schau gestellt werden. Aber auf was ist in der Aufbereitung der Geschichten noch zu achten? Die sogenannten Klassiker funktionieren fast immer:
“Rein in die Schulden – Raus aus den Schulden” oder “Die 5 häufigsten Schuldenfallen”
Für den Bereich der Schuldnerberatung ist es geeignet, sichtbare Erfolge zu beschreiben über ein Porträt eines Betroffenen. Dabei kann eine Geschichte auch mehrfach erzählt werden. Ein Betroffener verleiht den eigenen Aussagen Gewicht. Auch ist die Wiederholung von guten Argumenten erwünscht. Es müssen nicht 10 Fallstricke erwähnt werden oder immer wieder neue Argumente ins Feld geführt werden. Es reichen drei wesentliche Punkte, warum sich zum Beispiel Jugendliche mit Telekommunikation verschulden.
Die sieben W-Fragen, die jeder Artikel oder Beitrag abdecken muss, am Beispiel von Handyschulden bei Jugendlichen:
Wer: vor allem junge Menschen
Was: Schulden von mehreren tausend Euro
Wann: belaufen sich oft über mehrere Jahre
Warum: soziale Interaktion über Smartphone wichtiger Bestandteil des Lebens; Vertragsbedingungen oft tückisch
Wie: Kosten oft nicht überschaubar, intransparent
Wo: in jeder Fußgängerzone gibt es Geschäfte, die diese Verträge anbieten
Wieso: weil der beste Freund auch ein Smartphone hat, Peergroup treibt natürlich an
Für ein Interview oder Bildmaterial ist ein Ort geeignet, an dem bspw. Schuldenfallen lauern. Dazu zählen Einkaufspassagen oder große Kaufhäuser.
Dr. Stephan Marks, Sozialwissenschaftler, Supervisor, Sachbuch-Autor und Fortbildner, ging ursprünglich der Frage nach, wie der Nationalsozialismus möglich war und stieß dabei auf das tief verwurzelte und oft handlungsleitende Schamgefühl.
Scham und Beschämung sind weit verbreitet in unserer Gesellschaft und werden nicht selten dazu eingesetzt Kontrolle über andere auszuüben. Bestes Beispiel ist dabei die Schule, mit der die meisten einige entwürdigende Momente verbinden dürften. Oft genug dient die Bloßstellung von Schüler*innen bis heute dazu, auf ihr Verhalten einzuwirken.
Scham ist eine extrem schmerzhafte und tabuisierte Emotion, die sich aber bei überschuldeten Menschen sehr häufig wiederfindet. Die Überschuldung an sich und das Angewiesensein auf fremde Hilfe ist für die Betroffenen oft mit großer Scham verbunden.
Scham ist komplex, sie isoliert, kostet Kraft, wird mit gespieltem Selbstbewusstsein verdeckt, ist mit unseren Erwartungen anderen gegenüber verbunden, beginnt oft schon mit dem Geschlecht, vernichtet Talent und Interesse, reduziert die Denkfähigkeit, findet sich schon bei Adam und Eva wieder und sorgt dafür, dass sich Menschen verstecken, um nicht vorgeführt werden zu können.
Scham ist aber auch die Wächterin der Würde (Léon Wurmser). Sie signalisiert Grenzüberschreitungen, dient im richtigen Maß einer positiven Verhaltensänderung und hat eine wichtige Funktion im sozialen Miteinander.
Für die Beratung ist es wichtig, dass Scham Raum gegeben wird, sie dort sein darf, nicht verhindert oder verbannt wird. Gleichzeitig sollten aber Anerkennung und Würdigung die Grundlage für die Interaktion mit den Ratsuchenden sein. Auch die Raumgestaltung ist von Bedeutung, sollte eine Bloßstellung verhindern und vor fremden Blicken schützen. Außerdem sollte eine weitere Beschämung vermieden werden. Dr. Marks rät aber dazu keine Schonhaltung einzunehmen und auf unangemessenes Verhalten hinzuweisen. Ein ablehnendes, irrationales und schamloses Verhalten seitens der Betroffenen könnten in übermäßigem Schamgefühl begründet sein. Für die Beratungskräfte ist es wichtig, eine gute Psychohygiene zu betreiben und sich mit Scham in der Supervision auseinanderzusetzen.
In seinem Vortrag beschreibt Renanto Poespodihardjo (Universitäre Psychatrische Kliniken Basel) den Werdegang von der Leidenschaft zur Sucht und bezieht sich insbesondere auf die Glücksspielsucht und die Kaufsucht, da diese besondere Geldmangelsituationen darstellen.
Kaufsucht ist eine Erkrankung, die vorwiegend Frauen erleiden. Allerdings sorgen die Möglichkeiten des Internet Shopping dafür, dass Männer in für sie angenehme Weise auf Schnäppchenjagd gehen können und ebenfalls verstärkt unter Kaufsucht leiden. Gesellschaftlich ist Konsum sehr erwünscht. Als krankhaftes Verhalten passt die Kaufsucht deshalb kaum ins Bild.
Die entscheidende Frage ist, warum Menschen von bestimmten Produkten abhängig werden. In den Fällen von Glückspiel- oder Kaufsucht liegt es an der Belohnungserwartung. Und diese Belohnungserwartung ist Kennzeichen von psychoaktiven Produkten. Die Produktgestaltung sorgt dafür, dass Lust und Emotion statt Vernunft das Handeln leiten.
Neben der Belohnung spielt die Betäubung eine wichtige Rolle bei den Verhaltenssüchten und den Psychoaktiven Produkten. Dabei fokussiert sich die Aufmerksamkeit so sehr auf das Produkt, dass alle negativen Begleiterscheinungen der Verhaltenssucht ausgeblendet werden.
Wesentliche Einflussfaktoren sind: Alter, Geschlecht, Konsummöglichkeiten, Marketing, Persönlichkeit (Narzissmus), psychische Komorbidität (Depression) und die Einstellung zum Konsum. Prägend wirken hier neben der Gesellschaft und der Familie auch die Peergroup. Insbesondere in der Adoleszenz werden dabei die Weichen für eine spätere Anfälligkeit von Verhaltenssucht gelegt. Hinzu kommen bestimmte Auslöser, wie Werbeaktionen (Black-Friday, Mega Sale), die rein lustgesteuertes Einkaufen bedingen und auch zu Rückfällen bei den Betroffenen führen.
Poespodihardjo nennt die Zusammensetzung des Begriffs Glücksspiel ein „werbetechnisches Meisterwerk“. Er meint damit, dass hier zwei höchst positiv assoziierte Begriffe verwendet werden, die jeder für sich etwas sehr Schönes und im Leben unabdingbares darstellen.
Das Gefährdungspotenzial ist beim Glückspiel so hoch, weil die Elemente Zufall und Geschicklichkeit vermischt werden. Selbstwirksamkeit, also die Vorstellung einen Einfluss auf die Ergebnisse zu haben, sorgt für erhebliches Gefährdungspotenzial. Beim Glücksspiel, insbesondere bei den Sportwetten wird eine Kontrollillusion vorgetäuscht. Getreu dem Motto: Wenn ich nur genug Ahnung habe, wenn ich mich lange genug mit dem Thema beschäftige und mich darin auskenne, dann habe ich große Gewinnchancen. Hier arbeiten die Elemente Aufmerksamkeitsfokussierung und maximale Gewinnerwartung gut zusammen.
Poespodihardjo stellt klar, dass Verhaltenssüchte keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit seien. In seinem therapeutischen Handeln legt er viel Wert auf die Nachsorge: die Betreuung der finanziellen Situation ist entscheidend, um Nachhaltigkeit mit der Therapie bzw. im Leben des Betroffenen zu erreichen. Für ihn ist Schuldnerberatung fester Bestandteil der Therapie, weshalb die Fachkräfte über die Produkte und die Kennzeichen der Erkrankung Bescheid wissen müssen. Verdachtsmomente, wie viele kleine Abbuchungen auf dem Kontoauszug während der Nacht, sollten in der Beratung angesprochen werden.
Dr. Tobias Studer (Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Olten) beschrieb in seinem Vortrag Ideologien zu Verschuldung und zur Arbeit(smarktintegration). Einen Schwerpunkt legte er auf die moralische Betrachtung dieser beiden problematischen Lebenslagen. Das Thema “Verschuldet trotz Arbeit” wurde entgegen den Erwartungen leider nicht von Seiten der working-poor betrachtet.
In Arbeit zu sein und sich nicht überschuldet zu haben sind in unserer Gesellschaft zwei Elemente, die moralisch gesehen, ein einwandfreies Leben charakterisieren. Allerdings haben nicht alle Menschen die gleichen Voraussetzungen, so ein Leben zu führen. Ein großer Teil der Menschen lebt in Überschuldung, arbeitet in prekären Beschäftigungsverhältnisse oder ist arbeitslos. Wer überschuldet ist, wird oft persönlich dafür verantwortlich gemacht. Gründe außerhalb des eigenen Verhaltens werden nicht gesehen. Die Gläubiger*innen wollen zudem Glauben machen, dass derjenige, der Schulden hat, moralisch im Unrecht ist. Ähnlich verhält es sich bei der Arbeit. Arbeit zählt zu den moralischen Verpflichtungen; wer keine hat ist gesellschaftlich nicht integriert. Zudem wird das Problem der Arbeitslosigkeit individualisiert, indem behauptet wird, dass derjenige, der arbeitslos ist, sich wohl nicht genug angestrengt hat.
Sich verschulden zu müssen, ist für in Armut lebende Menschen oftmals notwendig. Denn viele Menschen können Güter nur über die Aufnahme eines Kredites erwerben, wie bspw. der Kauf eines Autos, was gebraucht wird, um zur Arbeitsstelle zu kommen.
Bei der Arbeitsmarktintegration konstatiert Dr. Studer, dass Willkür innerhalb der Strukturen zu Ausgrenzungen führen. Dabei stellt er auch in Frage, ob die Maßnahmen und Programme, die es im Bereich der Arbeitsmarktintegration gibt, Integrationsvorhaben sind oder eher zur Abschreckung für noch nicht von Arbeitslosigkeit Betroffene dienen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sieht er dabei im Spannungsfeld zueinander.
Wenn es darum geht, Überschuldung und Armut gesellschaftlich zu betrachten, ist dafür die Diskussion zu Umverteilung von Einkommen und Vermögen zu führen. In der Diskussion mit den Teilnehmenden wurde in diesem Zusammenhang das bedingungslose Grundeinkommen angesprochen. Dabei sieht Dr. Studer das bedingungslose Grundeinkommen aber durchaus auch kritisch. Für ihn besteht hier die Gefahr, dass wer dann trotzdem noch in die Überschuldung gerät und von Armut betroffen ist, nun wirklich selbst schuld ist und individuell versagt hat. Somit kann dieses Instrument, was Vielen in ihrer Vorstellung als Lösung für Armutslagen erscheint, durchaus auch missbräuchlich verwendet werden: nicht von den Beziehenden des Grundeinkommens, sondern im Sinne einer missbräuchlichen Bewertung von prekären Lebenslagen.
Diese verurteilende Haltung erleben Überschuldete bereits. Die gesellschaftliche Wahrnehmung schreibt Überschuldeten oft eine fehlende Kompetenz im Umgang mit Geld zu, obwohl die Top-Auslöser für Überschuldung nach wie vor Arbeitslosigkeit oder Krankheit sind.
Dr. Christoph Mattes von der Fachhochschule Nordwestschweiz vermittelte in seinem Videobeitrag und der anschließenden Diskussion gemeinsam mit Dr. Stephan Marks einige Aspekte von professioneller Schuldnerberatung.
Zu Beginn zeigte Dr. Mattes die Überschuldungssituation in der Schweiz auf. Obwohl für Wohlstand und Banken bekannt, existiert auch hier Überschuldung. Alle vier Jahre wird neben den Einkommens- und Lebensbedingungen der Schweizer*innen auch die Überschuldung erfasst. 2017 waren 5,7% der Bevölkerung von Vollstreckungsmaßnahmen betroffen. Da die Arbeitnehmer selbst für die Abführung von Einkommensteuer und Krankenversicherungsbeiträgen verantwortlich sind, liegt hier ein Schwerpunkt der Schulden. Für die Betreibung wird auch kein Titel benötigt, sofort nach Fälligkeit kann betrieben werden. Anders als in Österreich und Deutschland sieht der Privatkonkurs auch keine Restschuldbefreiung vor, sondern unterbricht lediglich die Beitreibungsmaßnahmen. Schulden bedeuten in der Schweiz “lebenslänglich”.
Die Bedeutung von Autonomie und Integrität verdeutlichte Dr. Mattes anhand der Stadtentwicklung von Freiburg: Während sich die Bürger im 14. Jahrhundert freikauften, unterstellten sie sich dem Schutz dem Habsburger, die dafür Geld und Soldaten verlangten. Der teuer erkaufte Schutz blieb jedoch aus und die Stadt wechselte in den folgenden Jahrhunderten vielfach die Herrscher. Immer wieder wurde in Festungsanlagen investiert und auch heute wird viel Geld ausgegeben und Bürgschaften z. B. für das neue Stadion aufgenommen. Dank ausbleibender Einnahmen aus Ticketverkäufen könnte die Stadt auf den Kosten sitzen bleiben. Insgesamt steht der Wunsch nach Autonomie einem immer wiederkehrenden Rückfall in neue Zwänge und Beschränkungen gegenüber, was von einem geringen Maß an Integrität zeugt.
Für Arbeit der professionellen Schuldnerberatung bedeutet dies, das Verhalten der Klientel neu einzuordnen: Ver- und Überschuldung sind Teil gesellschaftlicher Teilhabe, insbesondere für die, die über wenig finanziellen Spielraum verfügen. Schulden und Überschuldung ist aus Betroffenensicht durchaus sinnvoll und richtig, auch wenn die langfristigen Folgen sich wiederum nachteilig auswirken.
Die eigene Integrität lässt sich also nicht einfach mit der der Ratsuchenden vergleichen. Ein gutes Leben zu führen geht für die/den eine/n mit Schuldenfreiheit, für die/den andere/n mit Schuldenmachen einher. Und so stellte Dr. Mattes während seiner Tätigkeit als Schuldenberater fest, dass die Aufforderung zur Erstellung eines detaillierten Haushaltsplans ein sicheres Mittel ist die/den Ratsuchende/n loszuwerden. Dieses Vorgehen steht aus professionstheoretischer Sicht einer ver- bzw. überschuldungsakzeptierenden Haltung gegenüber.
Abseits von Expertenwissen sollte es in der Beratung darum gehen Armut, Überschuldung und Alltagsbewältigung so zusammenzubringen, dass Handlungsalternativen vermittelt werden, die zu eigenverantwortlichen Entscheidungen führen und in der jeweiligen Lebenslage die Autonomie und Integrität der Ratsuchenden stützen.
Die umfangreichen Beiträge zu juristischen Sachverhalten werden im Folgenden nur kurz angerissen. Eine zum Verständnis notwendige detaillierte Darstellung sprengt in diesem Format den Rahmen. Deshalb verweisen wir für konkrete Nachfragen an den Kollegen der Fachberatung Recht, Olaf Gelbhaar.
Aktuelle Rechtsprechung mit RA Kai Henning
Rechtsanwalt Kai Henning vermittelte in einem Video-Beitrag und Live-Chat die wichtigsten Urteile und Änderungen mit Bezug zur Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung, z. B. zur Pfändbarkeit von Zahlungen, die im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie stehen.
Aktuelle Gesetzesänderungen mit Prof. Dr. Hugo Grote
Prof. Dr. Hugo Grote von der Hochschule Koblenz ging in seinem Live-Webinar unter anderem auf die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1023 und die sich daraus ergebende Verkürzung der Restschuldbefreiungsphase, das Pfändungsschutzkonto-Fortentwicklungsgesetz (PKoFoG) und relevante schuldner- und insolvenzrechtliche Änderungen infolge der Covid-19-Pandemie ein.
Jobcenterschulden mit Roland Rosenow
In einem Live-Webinar hat der Referent für Sozialrecht auf die Widersprüchlichkeiten der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II und dem SGB XII in Bezug auf Minderjährige dargestellt und ging im Besonderen auf die Minderjährigenhaftungsbeschränkung ein.
Krankenkassenschulden mit Sven Ulbrich
Sven Ulbrich, der als Richter am Sozialgericht Berlin tätig ist, zeigte unter anderem auf, welche Möglichkeiten zu einem Krankenkassenwechsel bei Beitragsschulden bestehen, was der Notlagentarif aufgrund von Beitragsschulden der Eltern für das mitversicherte Kind bedeutet und was zu tun ist, wenn die Krankenkasse der Bitte um einen Tarifwechsel nicht nachkommt?
Vertretung im gerichtlichen Insolvenzverfahren mit Reiner Saleth und Nora Sickeler
Insolvenzverwalterin Nora Sickeler zeigte in ihrem schriftlichen Beitrag die organisatorischen und fachlichen Voraussetzungen sowie die Praxis der Verfahrensvertretung. Schuldnerberater Reiner Saleth startete hierzu eine Umfrage, die Unsicherheiten reduzieren, Handlungsansätze erarbeiten und Argumente für eine auskömmliche Finanzierung und methodisch sichere Beratung sammeln sollte.
Stolpersteine bei Zuwendungen und Vergaben
Alexander Willberg, Geschäftsführer der Projektinnovation S-H GmbH, gab den Teilnehmer*innen der Tagung eine Einführung in das Zuwendungs- und Vergaberecht, also die Finanzierung ihrer meist im öffentlichen Interesse liegenden Tätigkeit. Dabei zeigte er die grundlegenden Unterschiede zwischen Vergabe und Zuwendung, insbesondere die zu beachteten Fallstricke, auf.
BAG-SB Innovationspreis
Gemeinsam mit der Wilhelm Oberle-Stiftung lobte die BAG-SB erstmalig einen Innovationspreis für innovative Konzepte rund um die Schuldnerberatung aus. Hauptaugenmerk lag dabei auf der digitalen Zukunft und neuen Kommunikationswegen.
Der mit 1.500 € prämierte erste Platz ging dabei an die Caritas Schuldnerberatung Neubrandenburg und ihren Schulden Podcast. Hier erhalten Ratsuchende und Interessierte in kurzen Audiobeiträgen hilfreiche Informationen zum Mahnverfahren, zur Insolvenz oder zum P-Konto.
Der zweite Platz und damit eine Freikarte für die kommende BAG-SB-Tagung gingen an den AWO Kreisverband Berlin für die Erarbeitung einer besseren Kommunikation mit Gläubiger*innen. In Kooperation mit dem Bund deutscher Inkassounternehmen BDIU wird an einem Verfahren zur Übermittlung von E-Mails in verschlüsselter Form gearbeitet.
Schuldnerberatung in der Straffälligenhilfe
Vorstandsmitglied der BAG-SB Miriam Ernst stellte in einem kurzen Videobeitrag das Expertenforum Straffälligenhilfe vor. Die Besonderheiten, die sich bei der Schuldnerberatung im Zusammenhang mit Straffälligen ergeben, erfordern oft spezielle Kenntnisse und bedürfen gesonderten politischen Forderungen. Da die Nachfrage bei den Beratungskräften in diesem Bereich besonders groß ist, können sich auch Nicht-Mitglieder der BAG-SB an dem fachlichen Austausch beteiligen. Dieser findet per E-Mail über einen Verteiler sowieso Treffen bei den Tagungen der BAG-SB statt. Alle Interessierten erhalten nochmal alle wichtigen Informationen hierzu in den FAQs.
Beratung von (ehemals) Selbstständigen
Frank Wiedenhaupt, Vorstandsmitglied der BAG-SB, weckte mit seinem Videobeitrag das Interesse am Expertenforum Selbstständige, welches für Mitglieder der BAG-SB zugänglich ist. Gerade in Verbindung mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden Selbstständige vermehrt auf die Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung angewiesen sein und die Beratungskräfte wiederum einige spezielle Kenntnisse benötigen. Frank Wiedenhaupt verwies dabei auf die Möglichkeiten das Einkommen für den privaten Bereich bspw. durch ALG II zu sichern, Ausgaben zu reduzieren (Anträge beim Finanzamt) und Rückgriff auf die staatlichen Zuschüsse. Insbesondere letztere dürften aber wiederum für Probleme sorgen, da oft unwissentlich oder vorsätzlich falsche Angaben gemacht werden, mit entsprechenden Folgen für eine spätere Restschuldbefreiung. Alle wichtigen Informationen zum Expertenforum, an dem Sie sich gerne beteiligen können, finden Sie in den FAQs. Eine hilfreiche Checkliste zur Beratung von Selbstständigen in der Corona-Krise finden Sie in der BAG-SB Fachzeitschrift #2_2020.
Netzwerk Straffälligenhilfe - Resozialisierung in Baden-Württemberg
Den Beitrag von Sabine Oswald (Bereichsleitung Krisenintervention und Existenzsicherung des Paritätischen) finden Sie in der Fachzeitschrift für Schuldnerberatung der BAG SB # 2_2020.