„Migration in Thüringen – Aktuelle Herausforderungen in der Sozialen Arbeit“ - Dokumentation zur LIGA Fachtagung vom 06.09.2018

von Peter Kießling

Seit gut zwei Jahren mussten wir erleben, wie der Flüchtlingsschutz Schritt für Schritt zurückgedreht wurde und weiter zurückgedreht wird. Abschottung der EU-Außengrenzen, Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Geschützten, konsequente Abschiebung und steigender Rückkehrdruck, beabsichtigte Verlagerung der Prüfung von Asylgesuchen auf Gebiete außerhalb der EU sind nur einige Stichworte der letzten Wochen. Menschenrechte und der Grundgedanke internationaler Solidarität mit Menschen, die vor Krieg und Verfolgung Schutz suchen, werden dadurch zunehmend ausgehöhlt. Gleichzeitig wird aber auch diskutiert, wie sich Migration besser steuern lässt, z.B. durch das Öffnen legaler Zuwanderungswege über Arbeitsmigration.

Wohlfahrtsverbände, Träger, Kommunen, Landes- und Bundesregierung sind angehalten, diese und weitere Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Doch viel zu selten bekommen die Akteure vor Ort die Möglichkeit sich direkt mit den Spitzenverbänden, aber auch mit den Verantwortlichen in der Landespolitik zusammenzusetzen. Bei der Entwicklung neuer Projekte, neuer Finanzierungsformen und Richtlinien ist es unerlässlich den Blick auf die Praxis zu richten und immer wieder zu schärfen. Auf der anderen Seite ist das Verständnis für die politischen und z.T. wirtschaftlichen Beweggründe hilfreich, die Entwicklungen in der Migrationspolitik nachvollziehen zu können.

Die jährlich stattfindende Jahrestagung „Migration in Thüringen“ der LIGA Thüringen bietet genau für diesen Austausch zwischen Praxis, Politik und Verwaltung einen guten Rahmen. Am 06.09.2018 fand der diesjährige LIGA Fachtag in der FH Erfurt statt. Über 100 Teilnehmer*innen nutzten diese Gelegenheit. Die vielen Anmeldungen zu dieser Veranstaltung haben gezeigt, dass nach wie vor ein enormer Redebedarf auf allen Seiten besteht.

Migration betrifft alle

Hans-Otto Schwiefert, LIGA Geschäftsführer im Gespräch mit Michaela Seitz, Diakonie Mitteldeutschland und Sabine-Maria Kuchta, Caritasverband für das Bistum Erfurt

Auffällig war, wie unterschiedlich die Arbeitsbereiche der Fachtagsteilnehmer*innen waren. Dies macht deutlich, dass Migration alle betrifft und nur als Querschnittsaufgabe verstanden werden kann. Die Sozialwirtschaft ist bei der Bearbeitung dieser Querschnittsaufgabe eine wichtige Partnerin. Schon lange beraten die Träger der freien Wohlfahrtspflege Zugewanderte durch die Jugendmigrationsdienste und Migrationsberatung für Erwachsene. „Als LIGA der Freien Wohlfahrtspflege geht es uns vor allem darum die Teilhabechancen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen zu fördern.“so der LIGA Geschäftsführer Hans-Otto Schwiefert. Dabei mischt sich die LIGA Thüringen immer wieder politisch-strategisch im Sinne von Politikberatung auf Landesebene ein. Beispielsweise in Gremien wie den Landesintegrationsbeirat aber auch im fachlichen Austausch mit dem TMMJV, dem TMBJS oder dem BAMF.

Die Notwendigkeit dieser Einmischung hebt auch Sebastian von Ammon, Staatssekretär des TMMJV, in seiner Rede zu den aktuellen Herausforderungen in Thüringen hervor: Wir [die Landesregierung] stellen zwar Geld, setzen Prioritäten und Ziele. Doch Integration ist eben nichts, was man bestellen oder kaufen kann. Hier sind wir in einem ganz besonderen Maßnahme auf die Zusammenarbeit mit Ihnen angewiesen: auf Ihre Erfahrungen, Ihre Nähe zu den Menschen und zum „wahren Leben“, Ihre Projektideen und Ihre Rückmeldungen.“

Sebastian von Ammon, STS TMMJV

Abstimmung und Vernetzung sind ebenso die entscheidenden Schlagworte in der Thüringer Initiative für lokales Integrationsmanagement in den Kommunen (ThILIK). Mit der Aufgabe alle erforderlichen lokalen Ressourcen zu bündeln und abzustimmen unterstützt das Projekt vornehmlich die Verwaltungen bei der Integration von Neuzugewanderten.

Zu der Entwicklung und dem aktuellen Stand im kommunalen Integrationsmanagement berichtete am 06.09. Farina Eggert vom Institut für kommunale Planung und Entwicklung (IKPE). Die Präsentation von Frau Eggert finden Sie in der Anlage dieser Dokumentation und als Download auf der LIGA Website.

Integration als große Herausforderung

Während die Prozesse um die Erstaufnahme von Geflüchteten und deren Verteilung auf die Kommunen inzwischen gut eingespielt sind, stellt die Integration eine große Herausforderungen dar.

Neben der Unterstützung in aufenthaltsrechtlichen Fragen und Fragen des Leistungsbezugs, sind die Hilfe bei der Suche von KiTa-Plätzen, Fragen zu Bildungszugängen (Schule, Ausbildung) und Zugang zum Arbeitsmarkt, die Unterstützung bei der Wohnungssuche wichtige Beratungsthemen. Und immer wieder auch die Frage: Wann darf meine Familie endlich kommen?

Diese Fragen zeigen, wie wichtig Beratungs- und Begleitstrukturen im Bereich der Arbeitsmarktintegration sind, die auch gefördert werden müssen. Dies unterstreicht auch  STS von Ammon: „Neben dem Arbeitsministerium, welches  das Projekt „Faire Migration“ fördert, legt mein Haus [TMMJV] auch für das kommende Jahr den Förderschwerpunkt auf die Stärkung der Begleitstruktur im Integrationsprozess. Wir haben uns dazu ausgesprochen auch im kommenden Förderjahr die Thüringer Migrationsberatungsstellen weiter zu unterstützen.“

„Tausche Asyl gegen Arbeit“

Holger Kolb, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR)

Mit der Jahrestagung 2018 hat die LIGA Thüringen die politischen Debatten zur Arbeitsmarktentwicklung, Arbeitsmigration sowie zur Ausbildungsentwicklung aufgegriffen.

Die Steuerung von Zuwanderung in Zeiten ‚gemischter Migration‘ und Eröffnung sowie Ausbau legaler Zuwanderungswege, um dem drohenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, sind dabei die Themenschwerpunkte. Doch heißt das, dass in Deutschland nur diejenigen willkommen sind, die „nützlich“ sind? Wie ist das Verhältnis zwischen Arbeitsmigration und dem Asylrecht? Gibt es Möglichkeiten, Übergänge zwischen beiden Regimen zu schaffen?

Fehlende Bildung/Qualifizierung, kaum Deutschkenntnisse, keine Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Job und Weiterbildung, fehlende Möglichkeit des sog. „Spurwechsels“ und das Fehlen eines grundlegendes Regelwerk zur Einwanderung sind nur einige Schwierigkeiten in der Arbeitsmigration. Hinzu kommt eine wachsende Verunsicherung in der Bevölkerung, die teilweise gar in Ablehnung gegen Zuwanderung ausartet.

Landesprogramme wie „Start Deutsch“ oder „Start Bildung“, die Bundesregelung zur Ausbildungsduldung oder die angesprochene finanzielle Unterstützungen der Thüringer Migrationsberatungsstellen sind wichtige Schritte, diesen Schwierigkeiten zu begegnen.

Jedoch muss vor allem für ausländische Auszubildende und deren Ausbildungsbetriebe noch weitaus mehr Rechtssicherheit geschafft werden. Insbesondere die Ausbildungsduldung ist entwicklungsbedürftig. Auch die Möglichkeit zum „Spurwechsel“ ist weiter zu diskutieren.

U.a. diese Themen wurden von Hauptreferent Herrn Holger Kolb im Rahmen seines Vortrags am 06.09. behandelt. „Asylpolitische Perspektiven einer stärkeren Öffnung von Wegen zur Arbeitsmigration“, so war der Titel seines Referats, welches Sie in der Anlage dieser Dokumentation und als Download auf der LIGA Website finden.

Herr Kolb ist Politikwissenschaftler und seit 2009 für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) tätig. Seit 2012 steuert er als Leiter des Arbeitsbereichs Jahresgutachten die inhaltliche Erarbeitung der SVR-Jahresgutachten, 2016 hat er darüber hinaus die Stellvertretung der Geschäftsführung übernommen.

Im Anschluss an den Vortrag von Herrn Kolb arbeiteten die Fachtagsteilnehmer*innen in vier Workshops weiter. Dabei standen folgende unterschiedliche Themen zur Wahl:

AG 1. Härtefallkommission und Kirchenasyl
AG 2. Prekäre Arbeit, Zwangsarbeit und Menschenhandel
AG 3. Soziale Rechte für EU-Bürger
AG 4. Antidiskriminierungsarbeit

AG 1. Härtefallkommission und Kirchenasyl

Johannes-Martin Schultz-Schottler, Härtefallkommission;
Petra Albert, EKM;
Christiane Götze, AWO IBS

Wenn keine Aussicht auf einen Aufenthalt besteht, stellt sich die Frage – was tun? Auf der Homepage des TMMJV heißt es dazu: „Anträge an die Härtefallkommission können ausschließlich von Mitgliedern der Härtefallkommission gestellt werden.“ Betroffene ausreisepflichtige Ausländer müssen sich somit an ein Mitglied der Härtefallkommission wenden.“  Doch welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein? Welche Unterlagen braucht es und was ist integrationsfördernd? Johannes Schulz-Schottler als langjähriges Mitglied der Härtefallkommission stellt die Arbeit, Verfahrenswege sowie seine Erfahrungen aus den letzten Jahren vor.

Kirchenasyl soll vor Abschiebung schützen, wenn begründete Zweifel an einer gefahrlosen Rückkehr bestehen. Seit 01.08.2018 gibt es durch das BAMF veränderte Regelungen für das Kirchenasyl. Welche Auswirkungen haben diese Regelungen? Welche Erfahrungen gibt es zum Kirchenasyl in Thüringen? Diese Fragen wurden im Workshop 1 gemeinsam mit Petra Albert (EKM), Johannes-Martin Schultz-Schottler (Härtefallkommission) und Christiane Götze (AWO IBS) diskutiert.

Das Handout von Petra Albert finden Sie in der Anlage zum Download.

AG 2. Prekäre Arbeit, Zwangsarbeit und Menschenhandel

Benjamin Heinrichs, DGB Bildungswerk

Rona Freiberg, der Paritätische;
Benjamin Heinrichs, DGB Bildungswerk

In Workshop 2 referierte Benjamin Heinrichs vom DGB Bildungswerk mit den Teilnehmer*innen zu Beschäftigungsverhältnissen in besonderer Abhängigkeit – wo sind Fallstricke und wo lauern Gefahren für migrantische Arbeitnehmer*innen?

AG 3. Soziale Rechte für EU-Bürger

Dr. Elke Tießler-Marenda, Deutscher Caritasverband

Dr. Elke Tießler-Marenda, Deutscher Caritasverband
Sabine Kuchta, Caritasverband für das Bistum Erfurt

Die Zahl der in Deutschland lebenden ausländischen EU-Bürger/innen ist hoch und steigt derzeit auch noch weiter an. Entsprechend spielt diese Gruppe auch in der sozialen Arbeit eine große Rolle. Im dritten Workshop wurde darauf eingegangen, welche sozialrechtlichen Ansprüche die Gesetzgebung in Bezug auf EU-Bürger/- innen mit sich bringt und welche Konsequenzen davon abzuleiten sind. Referentin in dieser Arbeitsgruppe war Dr. Elke Tießler-Marenda vom Deutscher Caritasverband. Die Begleitpräsentation/das Handout dieses Referats finden Sie in der Anlage.

AG 4. Antidiskriminierungsarbeit

Matthias Gothe (Vielfalt Leben - QueerWeg Verein für Thüringen e.V.);
Christina Büttner (ezra – Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen);
Julia Gross (DRK Landesverband Thüringen)

Herr Gothe hat im Rahmen des Workshops das neu gegründete Thüringer Antidiskriminierungsnetzwerk vorgestellt. Frau Büttner informierte über Beratungsmöglichkeiten im Themenfeld Antidiskriminierung und berichtete von Beispielen aus der Praxis. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass Netzwerke und die finanzielle Förderung von Antidiskriminierungsarbeit eine wesentliche Voraussetzung für die Arbeit sind. Ein größerer Schwerpunk sollte zukünftig auf der Sichtbarmachung von best-practice-Beispielen gelegt werden.

Weiterer Diskussionsbedarf besteht vor allem darin, inwieweit die Verbände und Institutionen innerhalb ihrer eigenen Strukturen mit dem Thema Diskriminierung umgehen und an welchen Punkten Antidiskriminierungsarbeit verankert werden kann.

Resümee

Es ist schon jetzt spürbar, dass sich die Parteien für den Landtagswahlkampf in Stellung bringen – und dass das Migration ein zentrales Wahlkampfthema werden wird.
Der bundesweite Ruck hin zu einer Abschottungspolitik ist auch in der Rhetorik Thüringer Parteien deutlich vernehmbar.

Wichtige Aufgabe der LIGA wird es 2019 sein, sich mit ihren Positionen für eine offene, vielfältige Gesellschaft mit gleichberechtigten Teilhabechancen für alle in Thüringen Lebenden in diesen Diskurs einzubringen. Die Hilfe für Bedürftige – also auch Zugewanderte – wird weiterhin einen hohen Stellenwert haben. Die Integration Zugewanderter zu begleiten, wird auf absehbare Zeit eine wichtige Aufgabe der Wohlfahrtsverbände bleiben.

Wie das gelingen kann, könnte man z.B. auch im Rahmen von Organisationsentwicklungs-prozessen der interkulturellen Öffnung in den LIGA Verbänden und ihren Mitgliedern ansprechen. Wir müssen auch kritisch auf unsere eigenen Angebote und Strukturen schauen: sind sie wirklich so offen für alle Bedürftigen wie wir annehmen?

Das Thema der Gestaltung von Prozessen interkulturelle Öffnung könnte eines sein, das sich auf der Fachtagung nächstes Jahr zu beleuchten lohnen könnte.

Als LIGA der Freien Wohlfahrtspflege

stehen wir für eine humanitäre Flüchtlingspolitik.

Im Aufruf der Integrationsbeauftragten an die Kommunen, die Aufnahme von Geflüchteten in Erwägung zu ziehen, die durch zivile Retter aus dem Mittelmeer geborgen wurden, können wir keine unangemessene Einflussnahme sehen.

setzen wir uns für den uneingeschränkten Familiennachzug zu subsidiär Geschützten ein:

Die Neuregelung, die den Nachzug von monatlich 1.000 Angehörigen subsidiär Geschützter erlaubt, geht nicht weit genug (es liegen schon 24.000 Anträge vor!), die Auswahl ist intransparent und gleicht einer Lotterie.

sprechen wir uns gegen die Einrichtung eines AnkER-Zentrums in Thüringen aus.

Wir bestärken die Landesregierung in ihrer Haltung bei der frühzeitigen dezentralen Verteilung zu bleiben.

fordern wir Zugänge zu Bildung, Ausbildung und Arbeit frühzeitig und unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu eröffnen.

Sofern Regelsysteme nicht mehr greifen (z.B. weil keine Schulpflicht mehr besteht), braucht es frühzeitig Angebote, um das Recht auf Bildung umzusetzen und damit die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu fördern. Das Landesprogramm StartBildung ist hier ein Anfang.

fordern wir die nachhaltige finanzielle Absicherung der Arbeit von refugio aus Landesmitteln,

um die psychosoziale Betreuung von Geflüchteten in Thüringen sicherzustellen. Ein derartiges Beratungsangebot nicht zu unterstützen, kann sich der Freistaat im Interesse gelingender Integration nicht leisten.

treten wir ein für eine unabhängige und flächendeckende Asylverfahrensberatung, die noch vor der Anhörung ansetzt.

Wir danken dem Land für die Landesförderung der Beratungsstellen.

fordern wir Rückkehrberatung ausschließlich durch unabhängige Beratungsangebote freier Träger durchführen zu lassen.

Nur so können Freiwilligkeit der Teilnahme und Ergebnisoffenheit der Beratung garantiert werden. Beides sind wichtige Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Entscheidung.

engagieren wir uns in Zeiten zunehmender Polarisierung für den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Das Thüringer Landesprogramm DenkBunt ist ein für die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements für Demokratie und Vielfalt unverzichtbarer Baustein. Wir verwehren uns gegen die Verunglimpfung der daran beteiligten Akteure.

Zurück